DIE ZEIT 20. September 2016
Der Dirigent Riccardo Muti gilt als einer der besten Verdi und Mozart-Interpreten unserer Zeit. Ein Gespräch über Glanz, den Drang nach Perfektion, über Skandale – und den Spagat der klassischen Musik in einer globalisierten Welt
In Chicago, der Stadt Barack Obamas, ist er fast so populär wie der US-Präsident. In Wien und Salzburg wird er seit 45 Jahren verehrt. Seine Heimat Italien, wo er den Maggio Musicale Fiorentino, die Mailänder Scala und die Oper in Rom leitete, vergöttert ihn geradezu
– letztes Jahr brachte man ihn sogar für den Quirinale ins Gespräch, also als Staatsoberhaupt: Riccardo Muti ist einer der berühmtesten Dirigenten der Welt. Im Juli ist der gebürtige Neapolitaner 75 geworden. Wir treffen ihn in seinem Haus in Ravenna. Bei dem Gespräch ist sein Hund dabei, ein kleiner Boston-Terrier namens Attila, den freilich nichts mit dem kriegerischen Hunnenkönig verbindet, der Giuseppe Verdi einst zu einer Oper inspirierte.
DIE ZEIT: Maestro, das Leben eines Dirigenten scheint voller Erfolge und Glamour zu sein. Leben Sie ein solches Leben, haben Sie es gelebt?
Riccardo Muti: Ich verstehe Ihre Frage rhetorisch: nein, natürlich nicht.
Wissen Sie, das Podium ist kein Ort der Macht, sondern eine Insel der Einsamkeit. Von außen betrachtet mag das Leben eines Musikers glamourös scheinen, aber im Inneren, im Kern ist es sehr, sehr hart. Es besteht aus enorm viel Arbeit, und man muss auf fundamentale Dinge verzichten. Es ist kein normales Leben. Für mich war es immer schwer, trotz all der vielen notwendigen Opfer und des Verzichts auf die ganz einfachen Dinge des Lebens so etwas wie eine Balance zu finden.
DIE ZEIT: Kommen daher auch die Brüche und Paukenschläge in Ihrer langen Karriere? Ihre Zerwürfnisse mit der Scala oder der römischen Oper sind legendär. Das Konzert zu Prinz Charles’ 60. Geburtstag 2008 im BuckinghamPalast sagten Sie mit den Worten ab, Sie seien kein Entertainer – nachdem man Sie zweimal um Kürzungen im Programm gebeten hatte. Mögen Sie keine Kompromisse?
Muti: Nein, und zwar nicht weil ich im Besitz der absoluten Wahrheit wäre, sondern weil ich fest davon überzeugt bin, dass es unmöglich ist, im totalen Widerspruch zum jeweiligen künstlerischen Partner oder zu einer Institution zu arbeiten. Das gebietet mir der Respekt vor der Würde des Publikums und vor mir selbst.
DIE ZEIT: Worin besteht die Beziehung zwischen einem Dirigenten und einem Orchester? Welche Rolle spielt das, was man Charisma nennt?
Muti: Mit Charisma wird man geboren, heißt es nicht so? Ein mysteriöses Wort. Sprechen wir lieber von Persönlichkeit. Entscheidend im Verhältnis zu einem Orchester sind die eigene Kultur und das Wissen um die Kunst. Instinkt und Intellekt müssen Hand in Hand gehen. Ein Orchester spürt sofort, ob ein Dirigent kompetent ist und Autorität besitzt. Hinzu kommen seine menschlichen Eigenschaften, die eine Brücke zu den Musikern bilden sollten, sodass diese seine Interpretation respektieren und akzeptieren können, auch wenn Einzelne vielleicht nicht damit einverstanden sind.
DIE ZEIT: Wie sehr haben sich Ihre musikalischen Interpretationen verändert? Wie abhängig sind Sie dabei von den jeweiligen Klangkörpern, von Orten, der eigenen Stimmung?
Muti: Jede Interpretation ändert sich mit der Zeit, weil wir uns verändern. Der Blick auf die Welt, die Gesellschaft wird schärfer. Wir verändern uns aufgrund von persönlichen Erfahrungen und im Aus tausch mit der Welt. Jede Interpretation gilt für den Augenblick, sie ist nicht definitiv. Ich mag das Sprichwort zwar nicht, aber es ist etwas dran: Es gibt nichts Definitives auf der Welt, nur der Tod ist definitiv. Es gibt eine Interpretation, die sich im Laufe der Jahre ändert, und es gibt die tägliche Interpretation, die abhängig ist von der Atmosphäre, der Akustik, vom Publikum, vom künstlerischen und menschlichen Bezug zu den Musikern. Alles Elemente, die positiv wie negativ wirken können. Das ist ja das Schöne daran, dass eine Interpretation in den Details, nicht in der Substanz, jeden Abend variieren kann: Es ist ein Beweis unserer Vitalität, sonst könnten wir Platten auflegen. Brahms dirigierte seine Symphonien bekanntlich jedes Mal anders. Heute ist man da mental viel technischer drauf.
DIE ZEIT: Mittlerweile gilt es fast als anrüchig, vom „deutschen Klang“ zu sprechen, als steckte hinter dem Begriff eine nationalistische Gesinnung. Trotzdem unterscheiden sich deutsche Orchester klanglich bis heute von amerikanischen oder russischen. Was macht für Sie den Klang eines Orchesters aus?
Muti: Der Klang ist Ausdruck der Kultur eines Volkes. Früher war es einfach, zwischen dem deutschen, dem österreichischen, dem französischen, dem italienischen und dem russischen Klang zu unterscheiden. Heute, unter dem Diktat der Technologie und der Globalisierung, klingen viele Orchester gleich, einfach weil sie nach der Perfektion einer CD streben. Auf diese Weise büßen sie ihre Individualität ein. Wir erleben gerade eine eklatante Nivellierung des Klangs. Gott sei Dank gibt es noch Ausnahmen wie die Berliner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Wiener Philharmoniker und einige US Orchester. Selbstverständlich wird der Klang auch von dem künstlerischen Konzept des jeweiligen Dirigenten geprägt, das wiederum das Ergebnis seiner Kultur, Herkunft und Erfahrung ist. Aus der Verschmelzung beider Klangvisionen, der dirigentischen und der orchestralen, ergeben sich immer wieder neue, hochinteressante Konstellationen.
ZEIT: Musikalische und szenische Interpretation werden heute gern gegeneinander ausgespielt. Auch Ihre Auseinandersetzungen mit Regisseuren sind berüchtigt. Was darf, was kann, was muss Opernregie Ihrer Meinung nach leisten?
Muti: Das ideale Konzept kenne ich nicht. Das Interesse für die Regie, ohne ihre Bedeutung he runterzuspielen, ist heute über proportional gestiegen. Ich merke sofort, ob ein Regisseur Musikkenntnisse hat und den Text beherrscht. Nehmen wir Così fan tutte: Das Libretto von Lorenzo da Ponte ist kompliziert, weil es viele zweideutige, ja förmlich diabolische Stellen hat, die sowohl harmlos als auch – für damalige Begriffe – provokativ gedeutet werden können. Das nicht zu verstehen kommt einem Verrat an der Botschaft gleich, die bei Mozart immer eher in der Zweideutigkeit liegt als im landläufigen Verständnis. Eine Übertragung auf die Gegenwart kann da sicher hilfreich sein. Aber oft haben wir eine moderne Inszenierung, die bloß in hartem Kontrast zum alten literarischen Text steht. Auf der musikalischen Seite gesellt sich oft noch eine Vorliebe für historisch informierte Aufführungen hinzu. Beides sind Extreme. Man kann natürlich anderer Meinung sein. Klar, dass Mozart nicht nur im 18. Jahr hundert spielt, er ist universell. Die Regie sollte sich den Text aber viel mehr zu eigen machen und nicht per se nur den Widerspruch suchen. Zum Beispiel: Durch seine Einleitungen charakterisiert Verdi seine Personen musikalisch bereits, so etwas darf ein Regisseur nicht ignorieren. Eine Inszenierung kann also modern und klug sein oder treu und dumm – und umgekehrt.
DIE ZEIT: Sie haben sich oft gegen die sogenannte Tradition bei Verdi gewehrt, den mehr oder weniger willkürlichen Umgang mit der Partitur. Konnten Sie sich damit durchsetzen?
Muti: Mein Einsatz für die Komponisten des 19. Jahrhunderts, Verdi, aber auch Bellini, Donizetti und Rossini, gleicht in der Tat einer Mission, ohne dass ich mich dabei als Prophet oder gar als Richter profilieren möchte. Ich habe das Dirigieren unter Antonino Votto gelernt, dem langjährigen Assistenten von Arturo Toscanini an der Scala. Er hat mir vieles über das italienische Melodrama beigebracht, ein Wissen, das direkt von Toscanini stammt. Als ich angefangen habe, mich mit dem Repertoire des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen, ist mir der Missbrauch an den Partituren im Namen der »Tradition« klar geworden. Kürzungen, Tonlagenänderungen, Notenergänzungen, nur um dem Publikum zu gefallen: sicher von großem Effekt – musikalisch aber eine Schande. Jahrzehnte lang war die italienische Oper eine Karikatur, eine Beleidigung ihrer Autoren. Sie wurden in ihrer Essenz verraten. Man lese nur Verdis Briefe, in denen er Dirigenten und Sänger auf Respekt ein schwört: Für ihn ist allein der Komponist der Schöpfer. »Ich verlange«, sagt Verdi, »dass die Interpreten genau ausführen, was ich geschrieben habe.« Und doch merkt man anhand der Partituren, wie sehr Rigoletto, Il trovatore oder La traviata durch die Rezeptionsgeschichte manipuliert worden sind. Das zeitgenössische Publikum wünschte ein hohes C, das nicht in den Noten stand? Kein Problem! Was bei Mozart oder Wagner undenkbar wäre, scheint aus obskuren Gründen im italienischen Repertoire völlig legitim zu sein.
DIE ZEIT: Lernen Dirigenten eigentlich in erster Linie von Dirigenten, von Vorbildern oder Kollegen?
Muti: Auch, aber nicht nur. Herbert von Karajan etwa verdanke ich, wie alle Musiker, die außergewöhnliche Pflege des Orchesterklangs, mit dem er uns alle zu neuen Ufern geführt hat. Er war der Erfinder eines einmaligen Klangs, den er bei den Berliner und den Wiener Philharmonikern umgesetzt hat. Damit hat er die Musikwelt enorm beeinflusst, sowohl die, die ihm folgten, als auch die, die ihm nicht folgten. Manchmal entstehen auch tiefere Beziehungen unter Kollegen. Mit Carlos Kleiber etwa war ich eng befreundet. Wir haben uns 1981 in Mailand kennengelernt, als ich Le Nozze di Figaro an der Scala unter der Regie von Giorgio Strehler dirigierte. Er kam oft vorbei, weil er zur gleichen Zeit La Bohème probte. Von da an haben wir viel Zeit miteinander verbracht und über Musik und vieles andere gesprochen. Kleiber war nicht nur ein außergewöhnlich großer Dirigent, er hatte auch einen außergewöhnlichen Humor.
DIE ZEIT: Welche Erinnerungen haben Sie an die Sänger, mit denen Sie gearbeitet haben?
Muti: Unendlich viele! Mit Luciano Pavarotti, der schönsten Stimme unserer Zeit, habe ich wichtige Sachen gemacht, Don Carlos an der Scala, eine Aufnahme des Verdi-Requiems, eine Live-Aufnahme, I Pagliacci in Philadelphia und auch ein Benefizkonzert, bei dem ich am Klavier
saß. Richard Tucker, Agnes Giebel, Christa Ludwig, Brigitte Fassbaender – es ist ein ganzer Olymp von großen Künstlern, die ich kennen lernen durfte und die ich heute furchtbar vermisse. Dazu zählen auch der Geiger Zino Francescatti, der Cellist Paul Tortelier oder der Pianist Swjatoslaw Richter, der 1968 einwilligte, mit mir, einem unbekannten jungen Dirigenten, beim Maggio Musicale Fiorentino aufzutreten. Für mich war das der Beginn meiner Karriere, kurz darauf wurde ich Chef des Maggio.
DIE ZEIT: Welchen Platz wird die Musik in einer zu nehmend globalisierten Welt einnehmen?
Muti: Ich hoffe, dass aus den verschiedenen Kulturen neue musikalische Formen, Sprachen und neues Leben für die Kompositions-und- Interpretationskunst entstehen werden. Europa sollte nicht zum Museum werden, sondern offen für andere Kulturen bleiben, ohne dabei seine Identität zu verlieren.
DIE ZEIT: Gibt es noch Träume, einen Traum, den Sie sich mit 75 erfüllen möchten?
Muti: Ich bin gerade dabei, ihn zu verwirklichen: eine Akademie für junge Dirigenten, Sänger und Korrepetitoren in Ravenna. Ich habe von meinen Meistern gelernt, wie man eine Oper, vor allem eine italienische Oper, vorbereiten muss und nach welchen Kriterien ein Dirigent sein Wissen vermitteln soll. Kriterien, die fast in Vergessenheit geraten sind, weil die neue Generation sie kaum noch kennt. Diese Kriterien sind das Credo meiner ganzen Arbeit als Dirigent. Die Wurzel der Regie liegt in der Musik, der Dirigent ist für alles mitverantwortlich, was auf der Bühne passiert. Tritt er ans Pult, heißt das, dass er das Regiekonzept teilt. Die Vorbereitung einer Oper braucht Wochen: An jedem Detail, jedem Wort, jedem Austarieren einer Pause muss gefeilt werden. An der Accademia erfahren junge Musiker aus der ganzen Welt, wie das geht. Die Beziehung zwischen Wort und Musik zu entdecken ist für sie eine Offenbarung. Früher war das ganz normal.
DIE ZEIT: Welche Opern würden Sie mit auf die sprichwörtliche einsame Insel nehmen?
Muti: Falstaff und Così fan tutte, weil das Stücke sind, die menschliche Natur in ihrer ganzen Komplexität definieren. Heute scheint das Finale von Falstaff, Tutto nel mondo è burla (»Alles um uns herum ist Narretei«), geradezu prophetisch zu sein.
DIE ZEIT: Wenn Sie eines Tages im Himmel Giuseppe Verdi und Wolfgang Amadeus Mozart träfen, was würden Sie sie fragen?
Muti: Zuerst einmal weiß ich nicht, ob es einen Himmel, ein Jenseits gibt. Dann bin ich mir nicht sicher, ob mein Zug ins Paradies fahren wird … Wenn ich die beiden aber treffen sollte, hätte ich eine einzige Sorge – dass sie mir auf meine Frage »Wie habe ich euch gedient?« antworten: »Alles war falsch.« Das wäre für mich wie ein zweiter Tod.
Das Gespräch führte Flaminia Bussotti