OPER! Januar 2017
Tokio, November – Riccardo Muti kommt im Januar mit dem Chicago Symphony Orchestra, dessen musikalischer Chef er seit 2010 ist, auf Tournee nach Deutschland mit Konzerten in Hamburg (14., 15.), Baden-Baden (25.) und Frankfurt (27.). Dirigieren tut er meistens nur Orchester, die er gut kennt und liebt: CSO, Wiener Philharmoniker, Berliner Philharmoniker, Münchner BR und das von ihm 2004 gegründeten Luigi Cherubini Jugendorchester. Szenische Oper dirigiert er selten, er bevorzugt konzertant. Eine Ausnahme wird Aida bei den Salzburger Festspielen im Sommer sein. Ein Einzelgänger ist er immer gewesen und jetzt mit 75 vielleicht noch eher. Er spricht oft vom Podium als „Insel der Einsamkeit“. In Japan, wo er nach langer Abstinenz von der Wiener Staatsoper, aufgetreten ist, wurde er vom Publikum frenetisch bejubelt. Die drei Vorstellungen von Nozze di Figaro in der Kenmin Hall in Yokohama waren musikalische Sternstunden. Noch stärker aber ist der Eindruck, den er bei den Proben hinterlässt. Mit unermüdlicher Akribie setzt er sich bei jedem Wort und jeder Doppeldeutigkeit des Libretto mit den Sängern auseinander. Jede Phrase wird gefeilt. Rezitative, Diktion, Ausdruck und Gesang werden bis ins kleinste Detail herausgearbeitet und bekommen ihren ursprünglichen, zentralen Platz. Muti weiß die Musik zurückzunehmen und die Sänger auf Händen zu tragen: Erhabenheit, Genauigkeit und Schönheit sind das Ergebnis.
Das Interview hat in Tokio nach der Premiere von Nozze am 10. November stattgefunden.
Auch hier hat man Ihre spezielle Beziehung zu den Wienern gespürt. Was macht sie aus?
Wir arbeiten seit 46 Jahren ununterbrochen zusammen. Ich habe drei Generationen kennengelernt. 1971 gab es unter den Älteren manche, die mit Toscanini und Furtwängler musiziert hatten. Von den Wienern habe ich viel gelernt: die Bedeutung der Phrasierung, vor allem in ihrem Repertoire, das Timbre, die Klangfarbe, die Mitteleuropäische Kultur. Diesen spezifischen Klang in Verbindung mit meinem Konzept und meiner italienischen Kultur ist das, was ich immer versucht habe, den anderen Orchestern weiterzugeben. Die Wiener sind stolz auf ihrer Tradition und lieben vor allem jene Dirigenten, die in einer sich schnell verändernden Welt in der Lage sind, ihnen ihren originalen Klang zurückzubringen. Gerade in einer globalisierten Welt sind sie heute eines der wenigen Orchester, das sich für die Besonderheit ihrer Klanges und ihrer Farbe erkennen lässt.
Nach dem Schluss 2014 mit dem Opernhaus in Rom, dirigieren Sie jetzt Aida im Sommer in Salzburg. Was erwarten Sie von der Regie der Iranerin Shirin Neshat?
Der neue Intendant Markus Hinterhäuser, den ich sehr schätze, hat mich überzeugt, eine szenische Oper in Salzburg zu dirigieren, nachdem ich dort manche schmerzliche Erfahrungen gemacht habe und entschieden hatte, Opern nur konzertant zu dirigieren. Die Kritik, konservativ zu sein, lasse ich nicht gelten. Das beweisen die vielen Produktionen noch aus den 70er Jahren mit Regisseuren wie Luca Ronconi, damals der Inbegriff von Avantgarde, oder Giorgio Strehler, dessen profunde Kenntnisse unbestritten sind. Ich arbeite ganz einfach nicht gerne mit Regisseuren, die den Text und die Oper verzerren. Verdi sagte, man müsse eher dem Dichter als dem Komponisten dienen. Oft aber muss man feststellen, dass manche Regisseure den Text gar nicht verstehen. Shirn Neshat ist eine hochsensible und sozialengagierte Frau. Nicht umsonst hat sie einen Silbernen Löwen in Venedig bekommen. Sie könnte den Fokus auf das Problem der Frau richten, der Rassen, den Konflikt zwischen Aida und Amneris, Äthiopiern und Ägyptern: alles sehr aktuelle und moderne Themen. In Salzburg wird es sicher keine Elefanten geben! Es wird eine sehr einfache Inszenierung, da Aida an sich eine intime, auf gar keinen Fall eine bombastische, Zirkusoper ist. Strehler meinte, der Triumph läge in der Musik, Aida braucht keine szenische Phantasmagorie, sie ist durchdrungen von den schmerzhaften Beziehungen zwischen den Figuren.
Kann man hoffen, dass Sie eine Oper in Wien, Rom oder Deutschland dirigieren werden?
Eine szenische Oper verlangt nach meinen Begriffen die Anwesenheit des Dirigenten vom Probenanfang an, Regieproben inklusive. Es bedeutet also viel Zeit. Zum Beispiel hatten mich die Berliner eingeladen, Otello szenisch in Baden-Baden zu dirigieren, aber ich musste aus Zeitmangel absagen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, szenische Oper in Zukunft zu dirigieren, sehr gering.
Im Januar dirigieren Sie das CSO in Europa und in Mai die Berliner. Was verbindet die vier großen Orchester (CSO, Wiener, Berliner, BR), die Sie am meisten dirigieren?
Alle vier stehen für Musik und große kulturelle Tradition. Sie haben eine starke kulturelle Identität und eine große Geschichte, geprägt von großen Dirigenten, die sie im Laufe der Jahre aufgebaut und auf einem sehr hohen künstlerischen Niveau gehalten haben. Eine Symphonie aus dem großen österreichisch-deutsch-romantischen Repertoire mit diesen Orchestern zu dirigieren und dabei die eigene Interpretation zu verwirklichen, ist eine recht faszinierende Aufgabe, weil sich die Ergebnisse aus ihrer Tradition und Kultur im Zusammenspiel mit der Vision des Dirigenten ergeben. Dadurch kann er, mit diesen wunderbaren und doch unterschiedlichen Orchestern seine Ideen realisieren.
Sie dirigieren seit 50 Jahren. Was hat sich heute in der Dirigentenausbildung verändert?
Theoretisch scheint das Dirigieren, die Kunst der Bewegung der Arme zu sein. Toscanini sagte, die Arme sind die Erweiterung des Geistes, also ein Mittel zum Zweck, das heißt die Interpretation. Zu meiner Zeit wurde das Dirigieren in den letzten drei Jahren des Kompositionskurses, der 10 Jahre dauerte, an den Konservatorien gelehrt. Heute dirigiert man oft ohne Diplom, und auch ohne ein Instrument zu spielen. Jenseits der technischen Qualitäten müsste ein Dirigent eine umfassende allgemeine Bildung, sowohl musikalisch als auch humanistisch, haben, so wie es Furtwängler oder Bruno Walter hatten. Außerdem muss er die Kontrolle über das Orchester haben. Ich nenne als Beispiel Richard Strauss. Man erreicht mehr mit einer mäßigen als einer übertriebenen Gestik. Fritz Reiner, Herbert von Karajan beherrschten das Orchester eher mit dem Bewusstsein ihrer musikalischen Interpretation als mit Athletik, die einen Teil des Publikums beeindrucken mag.
Wie müsste die Ausbildung sein? Gilt nur die alte Schule oder sind ‚Shortcuts‘ denkbar?
Shortcuts sind schlimm. Wenn ich einen jungen Studenten treffe, der seine erste Erfahrung als Dirigent und Regisseur sammelt, frage ich immer, ob er seriöse Kompositionsstudien gemacht hat, ob er sich mit Kontrapunkt, Harmonie, Orchestrierung auskennt, ob er Klavier, ein Streich- oder Blasinstrument spielt. Die Antwort ist meistens negativ. Viele spielen kein Instrument und anstelle von zehn Jahren Komposition, lernen sie “Analysis”. Eine Antwort, die mich lächeln lässt und deswegen verlange ich, sowohl beim Wettbewerb George Solti in Chicago als auch bei der Akademie für junge Dirigenten in Ravenna, dass in einer der Vorproben, der Dirigent den Instrumentalisten oder den Sänger am Klavier unterrichtet. Danach, wenn einer diesen Test bestanden hat, geht man zu den echten Orchesterproben und erst dann zu der praktischen Probe mit dem Orchester. Toscanini sagte, auch ein Esel könne dirigieren, Musizieren könne aber nicht jeder.
Sie haben sich oft mit der Regie, insbesondere dem Regietheater, auseinandergesetzt. Zwischen Tradition und Moderne, vorgestrig und innovativ, wo liegt der richtige Weg?
Für mich die Bezeichnung traditionell, modern oder Avantgarde gibt es nicht: eine Regie ist intelligent oder dumm. Man kann eine traditionelle, intelligente oder dumme Regie haben. Und das gleiche gilt für die moderne Regie. Die Schwierigkeit liegt darin, szenische und visuelle Elemente, die Regie also, zu finden, die der Musik helfen und sich aus ihr nähren kann, ohne der Magie zu widersprechen, die zum Beispiel in Mozart und Verdi aus der engen Beziehung zwischen Wort und Note entsteht. Wenn – wie bei mir einmal der Fall war – Don Pasquale eine Ohrfeige bekommt und die Musik traurig wird, in einer von Donizetti typischen Balance zwischen Lächeln und Tränen, und er dann gezwungen ist, ein Fußbad zu nehmen, dann empfinde ich das als Beleidigung der Musik und des theatralischen Augenblicks. So was ist weder traditionell noch modern. Es ist einfach dumm und zeigt einen Mangel an Verständnis für den dramatischen Moment, den die Musik suggeriert. Oder bei der Mozart/Da Ponte-Trilogie das fehlende Verständnis der Regisseure und auch Dirigenten an der Genialität des Libretto, das auf zwei Ebnen läuft: eine offizielle und eine die, mit genau den gleichen Worten, auf eine provokative und erotische Bedeutung anspielt. So wirkt der gleiche Satz, als er vor dem Kaiser gesprochen wurde, völlig im Einklang mit dem Protokoll, während er gleichzeitig eine freche Bedeutung hat, die auf etwas ganz anderes hindeutet. Diese fundamentale, kritische Passage zu verstehen, die manche Aspekte der Regie beleuchten könnte, ist oft einfach nicht vorhanden. Die Zweideutigkeit dieser Opern zu erfassen, setzt die absolute Kenntnis des Originaltextes voraus. Man darf nicht vergessen, dass Mozart und Da Ponte nicht nur zwei große Genies waren, sondern es selbst liebten, auch mit Worten zu spielen. Diese Zweideutigkeit zu verstehen, ist von entscheidender Bedeutung, weil sie den musikalischen Ausdruck bestimmt.