OPER! Februar 2017
Eine der wichtigsten Figuren an diesem Opernabend in Yokohama sieht man gar nicht: den Maestro suggeritore, den Souffleur mit Dirigierverpflichtung. Der Neapolitaner Mario Pasquariello sitzt bei Mozarts Hochzeit des Figaro armeschwingend und Einsätze gebend im Kasten. Sein Urgroßvater Gennaro Pasquariello war vor dem Zweiten Weltkrieg ein berühmter Sänger neapolitanischer Lieder. Der Urenkel aber gehört seit 1994 der Wiener Staatsoper an und zählt längst zu den bemerkenswerten Persönlichkeiten dieses an besonderen Menschen nicht armen Hauses. Diskret, humorvoll und stets gut gelaunt, so sorgt er meist mit einem lockeren Witz vor der Vorstellung für Entspannung. Im Souffleurkasten ist er freilich konzentriert und fast so wichtig wie der Dirigent am Pult. Die Kollegen lieben ihn. Wenn man ihn reden hört, staunt man: Er spricht Florentinisch, also das feinste Hochitalienisch.
Das weiß auch Riccardo Muti zu schätzen, der vor dem Orchester steht und bei diesem japanischen Gastspiel der Wiener Staatsoper erneut eine Mozart-Oper zum heftig akklamierten Erfolg führt. Maestro, Souffleur und noch viele andere, sie sind wieder einmal nach Tokio und in den Quasi-Vorort Yokohama gekommen, um europäische Opernwonnen deluxe nach Fernost zu bringen. Auch wenn die Japaner selbst inzwischen sehr gut Musiktheater können, sind sie Originalfetischisten – und zahlen dafür entsprechende Ticketpreise. Und von wegen Gastspiel, hier ereignet sich eher ein Staatsakt! Nicht umsonst wird das Wiener Haus am Ring mit der Hofburg, früher Sitz des habsburgischen Kaisers, gleichgesetzt.
Mit gleich drei typischen Werken ist man für vier Wochen und neun Vorstellungen nach Japan geflogen und wurde – wie stets – mit allem Pomp gefeiert. Etwa 17.000 Menschen haben zwischen 112 und 600 Euro pro Karte dafür bezahlt. In Containern und Koffern waren die kompletten Zutaten für das, was die Japaner lieben und wofür sie gerne löhnen: Ariadne auf Naxos von Richard Strauss und Wagners Walküre für die große Bunka Kaikan beim Ueno Park in Tokio sowie als fast schon obligatorischer Mozart-Dauerbrenner Le nozze di Figaro für die etwas intimere Halle in Yokohama; wofür man eigens als Tourfassung noch die alte, längst legendäre Jean-Pierre-Ponnelle-Inszenierung aufgehoben hat. In Wien wird sie nicht mehr gespielt. Für alle Vorstellungen gab es am Ende tobenden Beifall. Besonders natürlich für Riccardo Muti, als Idol in Japan geliebt, an der Wiener Staatsoper schon länger schmerzlich vermisst. Aber auch für Marek Janowski, der Verweigerer szenischer Opern, der doch eben für Bayreuth und jetzt auch für Japan und Ariadne schwach wurde: Man hat ihn fast auf Händen getragen, nirgendwo gilt Alter und Können so viel wie hier.
Wahnsinn Operntournee
Für die Staatsoper war die Tournee wie stets ein immenser logistischer, organisatorischer und künstlerischer Aufwand. Doch man hat darin längst Routine. Insgesamt sind an die 300 Personen – Dirigenten, Solisten, Orchester, Chor, Direktion, Mitarbeiter der Technik und des musikalischen und szenischen Dienstes – von Wien nach Tokio gezogen. Zu Hause am Ring aber ging der übliche Spielbetrieb mit bewusst kleingehaltenen Werken und Ballett weiter. Ab Mitte August schon waren 27 Container mit 100 Tonnen Dekorationen, Kostümen und Requisiten, fast 7.000 Einzelteile, in 40 Tagen per Schiff nach Yokohama gereist. Hinzu kamen 6,5 Tonnen Instrumente und Noten in diversen Flugzeugen. Insgesamt waren rund 65 Maschinen zwischen Wien und Japan unterwegs, um die Mitwirkenden, darunter allein 45 Solisten, zu transportieren. Das Staatsopernorchester kam zudem aus Südkorea, wo man zuvor im Nebenjob als Wiener Philharmoniker auf eigene Rechnung gastiert hatte.
Seit 1980 war dies die neunte Staatsoperntour nach Tokio. Hinter der Bühne der Bunka Kaikan künden liebevolle Unterschriftenbildtafeln davon – wie von allen anderen illustren Ensembles, die hier auftreten. Für Direktor Dominique Meyer war es nach 2012 nun der zweite Japantrip. Der nächste müsste in vier Jahren, Oktober 2020 starten, aber die schwierige wirtschaftliche Lage und der Aufwand der komplett fremd-finanzierten Tour lassen Zweifel aufkommen. „Die Situation ist sehr schwierig“, sagt der japanische Veranstalter Norio Takahashi, Chef der privaten Stiftung NBS, der auch das Tokyo Ballet gehört. Takahashi war die rechte Hand und ist Nachfolger des berühmten Impresario Tadatsugu Sasaki, der letzten April mit 83 Jahren gestorben ist. Sasaki war ein profunder Kenner und Liebhaber der europäischen Kultur und überzeugter Promoter des Austauschs zwischen Japan und dem Abendland. Zu diesem Zweck gründete er 1981 die nicht subventionierte NBS, die über Jahrzehnte die wichtigsten Opernhäuser, Orchester und Ballettensembles nach Japan eingeladen hat.
Die Kosten, vor allem für Hotels, seien angesichts der Olympischen Spiele 2020 stark gestiegen, es ließen sich keine Pläne für die Zukunft machen, so Takahashi. Knapp zehn Millionen Euro hat die Reise der Wiener gekostet: „Wir schreiben diesmal ein gigantisches Defizit“, gibt er zu. Viele Japaner reisen inzwischen gleich nach Europa, um ihre Lieblingskompanie an Ort und Stelle zu erleben. Staatsoperndirektor Meyer muss das nicht anfichten: „Der japanische Veranstalter übernimmt die Kosten, wir verdienen insgesamt gut.“ Zudem seien die Gastspiele auch für das Land Österreich wichtig: Sie reflektieren „die internationale Ausstrahlung der Staatsoper und damit der gesamten österreichischen Kultur“. Längst freilich scheint der Starglanz nicht mehr so hell wie bei früheren Wiener Gastspielen. Immerhin waren Stephen Gould als Bacchus, Christopher Ventris als Siegmund, Petra Lang als Sieglinde und Michaela Schuster als Fricka dabei. Unter Muti sang Ildebrando D’Arcangelo den Grafen Almaviva.
Das Leben dahinter
Unerwartete menschliche Begegnungen bringt so ein Gastspiel natürlich für alle Beteiligten. Im Hotel trifft man eine Walküre am Frühstückstisch, deren Stimme beim „Guten Morgen“ über den ganzen Raum schallt. An einem Tisch, vorwiegend lieber alleine, frühstückt Walküre-Dirigent Ádám Fischer, der freundlich grüßt und schnell am Büffet vorbeisaust. Staatsopernchordirektor Thomas Lang ist auch da und frühstückt immer am selben Tisch dicht an der Wand. Oder Wotan: Der polnische Bass-Bariton Tomasz Konieczny, neben Nina Stemme als Brünnhilde herausragender Protagonist der drei Walküre-Abende. Er ist einer der Großen seines Fachs und man kann kaum glauben, wenn er erzählt, dass er gar kein Sänger werden wollte. Er hat als Regisseur in Polen angefangen, arbeitete dann als Schauspieler, bis es widerwillig doch zum Sänger langte. Dresden, Leipzig, Mannheim und Düsseldorf waren seine Vokalstationen, wo er nun mit seiner Frau und drei Kindern lebt. Längst tritt er in den besten Häusern der Welt auf, nicht nur in Wien, wo er früher oft den Alberich gesungen hat. Nur Bayreuth ist noch eine weiße Stelle in seiner Biografie.
In der Kenmin Hall von Yokohama hingegen dreht sich Backstage alles um Riccardo Muti. Vor seiner Tür stehen die Leute Schlange: Es sind Sänger, die letzten Rat vor der Vorstellung suchen, Musiker, Journalisten oder Bedienstete, die um ein Selfie oder Autogramm bitten. Blumen, Bonbons, eine Orchidee und stets frischen Espresso, in winzigen Kaffeetassen serviert, sind fixe Bestandteile des japanischen Dekors im Maestro-Zimmer. In dem langen, schmalen Flur, wo die Staatsoper ein eigenes Büro hat, wimmelt es. Und da treffen wir auch den Maestro suggeritore Mario Pasquariello wieder. Er muntert gerade die Covers auf, jene eigens mitgefahrenen Sänger, die einspringen müssen, falls jemand erkrankt. Sie warten und laufen nervös herum, voller Adrenalin, als ob sie singen müssten, aber nur selten kommt es dazu. Dieses Mal in Yokohama auch nicht.