DER STANDARD 25. März 2017
“Verfahren eingestellt” heißt der neue Roman von Claudio Magris, basierend auf der historischen Figur eines Sammlers. Ein Gespräch über Krieg und Frieden, die Stärken und Schwächen Europas und das Wiener Kaffeehaus
Der neue Roman von Claudio Magris, den er gerade erst auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt hat, erzählt – basierend auch auf historischen Fakten – von Diego de Enriquez, einem bizarren Sammler von Kriegsreliquien. Dieser will ein Museum errichten, das ein “Kriegsmuseum zum Zwecke des Friedens” sein soll. Bestandteile seiner Sammlung sind Gerätschaften wie Kanonen, Panzer, Raketen oder U-Boote, aber auch anderes wie Giftsäure oder gekaute Kaugummis von US-Soldaten.
Er selbst schläft in einem Sarg mit Samuraimaske und preußischer Pickelhaube. Im Hintergrund taucht das Gespenst der Risiera di San Sabba auf, das einzige KZ Italiens, wo die Namen möglicher Mitläufer von den Häftlingen auf die Wände geschrieben und später übertüncht wurden. Es gelingt Diego de Enriquez, sie zu entziffern und sie in seine Notizbücher zu notieren. 1954 wurden diese Notizbücher von den Briten mitgenommen – und sind bis heute unter Verschluss.
Nach einem mysteriösen Brand, bei dem der Sammler stirbt, wird eine Frau – Luisa ist im Gegensatz zum Sammler eine fiktive Figur und Protagonistin des Romans – beauftragt, das Museum weiterzubauen. Sie ist die Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants, Metapher also für zwei Exile und Verfolgungen: der Juden und der schwarzen Sklaven in Amerika.
Das Gespräch mit Magris in Berlin verläuft gelassen und unakademisch – und mit vielen Anekdoten, zum Beispiel über seinen Hund Jackson, einen in die Jahre gekommenen Brüsseler Griffon, den er gerne mitnimmt, wenn er durch Triest flaniert.
STANDARD: “Verfahren eingestellt” ist ein Buch über die Utopie des Friedens mittels eines ganzen Kriegskatalogs: Bleibt am Ende der Frieden nur eine Utopie und der Krieg die Realität?
Claudio Magris: Was Krieg und Frieden angeht, glaube ich, lohnt es sich, dafür schwermütig, pessimistisch, aber zäh zu kämpfen, so, als ob es möglich wäre, den Krieg zu vermeiden. Der Autor Romain Rolland sprach vom “Pessimismus der Vernunft und Optimismus des Willens”, und Isaac Bashevis Singer sagte: “Wenn du nicht glücklich bist, mach, als ob du es wärest, das Glück wird folgen.” Was mich hier interessierte, war die Wandlung der Wahnsinnsidee des Kriegsmuseums in einen noblen Wahnsinn. Der Salto mortale von einer verrückten Obsession zur Anklage der Schweigeverschwörung.
STANDARD: Historische Fakten vermischen sich mit Fiktion: Wie viel Autobiografisches steckt im Roman?
Magris: Ich habe den Mann kennengelernt und mit ihm einmal kurz gesprochen, er brannte in seiner Obsession. Mich hat das Thema Manie immer fasziniert: Einerseits ist eine fetischistische Besessenheit steril, trocknet das Leben aus, andererseits ist sie Gift, das zur heilenden Medizin werden kann. Diesen Salto von negativ tödlicher Manie zur “göttlichen Manie der Poesie” des Dichters zu beobachten ist extrem faszinierend. Mit der Suche nach den verschollenen Namen wandelt sich die Obsession des Mannes in eine Mission. Autobiografisch sind das Meer, das Thema der Liebe der Eltern zu den Kindern, das jahrzehntelange Schweigen über das KZ der Risiera di San Sabba und die Geschichte dieser zweier Völker, Juden und Schwarze, für die ich bis nach Martinique recherchiert habe und dabei auf die Geschichte von Luisa Navarrete gestoßen bin. Sie war eine Schwarze, die mit einem Weißen verheiratet war, die im 16. Jahrhundert der Hexerei beschuldigt wurde, der es aber gelang, sich vor der Inquisition als Opfer auszugeben.
STANDARD: Welchen Stellenwert hat der Roman für Sie in Ihrem literarischen Schaffen?
Magris: Zurzeit fühle ich mich ganz leer, wie eine ausgeräumte Wohnung. Mich interessiert die Zersplitterung der Beziehung Geschichte und Geschichten. Heute können Geschichten nicht mehr in der Komplexität der Weltgeschichte angesiedelt werden. Im 19. Jahrhundert war es noch möglich. Die großen Romane des 20. Jahrhunderts sind “misslungene Meisterwerke”, wie Raffaele La Capria einmal gesagt hat, weil sie die Aufgabe auf sich genommen haben, das Vereinende, die Einheit zu suchen – ohne Selbstgefälligkeit. Die großen Romane, die uns noch über unsere Gegenwart ansprechen, sind immer noch die der 1920er- und 1930er-Jahre. Dieses Buch Verfahren eingestellt stellt für mich die letzte Etappe der Überfahrt der Unordnung der Welt und meiner eigenen dar. Ich identifiziere mich sehr damit.
STANDARD: Ihre Studien über Mitteleuropa beginnen 1963 mit dem habsburgischen Mythos, der die k. u. k. Monarchie zusammengehalten hat und damit weite Teile des Kontinents bis zum Ersten Weltkrieg. Heute ist Europa alles andere als einig. Die Ideologien sind tot, Religion ist nicht mehr so bedeutend: Brauchte man einen übernationalen, gemeinsamen Mythos?
Magris: Gewiss, ein Mythos, eine Kraftidee hat zur Gründung verschiedener Reiche beigetragen. Man kann so etwas aber nicht aus dem Ärmel zaubern. In Europa sollte man sich der Werte bewusst sein, die für unsere Kultur tragend sein müssten: das Individuum, der Staat, die Demokratie.
Alles Werte, die nicht verhandelbar sind. Darüber hinaus ist der Mensch ein Homo politicus, das bedeutet, meine Lebensqualität endet nicht mit mir, sondern schließt meine Umgebung mit ein, weil sie Teil meines Wohlbehagens und Unwohlseins ist. Nicht umsonst hat der Westen den Wohlfahrtsstaat erfunden, was uns von den anderen Kulturen unterscheidet. Es ist die Idee einer Gemeinschaft, keiner kollektivistischen, die den Menschen in die Mitte stellt. Dasselbe gilt für Europa, man müsste die Probleme nicht als rein national sehen.
Ich bin ein europäischer Patriot. Man muss aber auch Fehler erkennen: Die Erweiterung der Europäischen Union war viel zu schnell. Man hätte zuerst einen Staat, eine Föderation gründen müssen. Auch das Konsensprinzip ist falsch, es gehört abgeschafft. Es ist totalitär, zeugt von Ungewissheit und aufgeblähten Mechanismen. Europa fehlt die Idee eines gemeinsamen Wohls, und jetzt ist es vielleicht zu spät.
Die Ähnlichkeit mit dem Heiligen Römischen Reich, einem durchaus faszinierenden, aber lahmen Gebilde, ist schon sehr frappierend. Es gibt ein Übermaß an Vorsicht und den Willen, niemanden zu stören. Nichtsdestotrotz hoffe ich persönlich, dass Europa nicht auf sein Ende zusteuert.
STANDARD: In seinem Buch “Die Schlafwandler” zeigt der in Großbritannien lebende australische Historiker Christopher Clark, wie die damaligen Regierenden ahnungslos Europa in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt haben, die dann mit dem Zer- fall des habsburgischen Reichs endete. Analogien mit dem Heute sind klar. Glauben Sie, dass mit wachsendem Populismus und Politikverdrossenheit Europa auch ein Zerfall droht?
Magris: Europa scheint eher von galoppierender Arthrose bedroht zu sein, wo möglicherweise gerade noch ein robuster Arm funktioniert. Der Erste Weltkrieg war der erste einer Reihe von Kriegen: Wir erleben jetzt, meiner Meinung nach, einen vierten Krieg – nach dem Ersten, Zweiten und dem Kalten Krieg. Es herrscht bei den Menschen und den Politikern ein mangelndes Bewusstsein für die ernste Möglichkeit, dass alles vor die Hunde gehen könnte.
Es fehlt jener gesunde “Pessimismus der Stärke”, von dem Friedrich Nietzsche sprach, der das Übel zu bekämpfen erlaubt. Europa krankt an Unentschiedenheit. Politik braucht eben auch Mut. Der ganze Westen leidet an “gewollter Blindheit”. In dem Sinn ja, der Begriff Schlafwandler trifft sehr gut zu.
STANDARD: Wie sehen Sie als Triester und Kenner Mitteleuropas heute Österreich und sein Kulturerbe?
Magris: Ich habe einige Aspekte seiner Vergangenheit bereits angesprochen. Die letzte Präsidentschaftswahl ist ein Grund zur Hoffnung. Was ich aber nicht weiß, ist, wie viel von jenem fundamentalen Salz des alten Österreich geblieben ist, das man in folgendem Satz zusammenfassen kann: “Es gibt Dinge, die muss man nicht einmal ignorieren.” Ich glaube, dieses österreichische Salz gibt es immer noch, beispielsweise gegen die Tyrannei des Angebots unserer Gesellschaft. In diesem Kontext fühle ich mich sehr österreichisch, das hilft mir. Es bedeutet eine gewisse Distanz zu den Dingen, aber auch eine gewisse Sturheit, wie sie in der jüngsten und auch weniger jungen Geschichte des Landes zutage getreten ist. Das Land teilt nicht den Hegel’schen Glauben: Weltgeschichte ist für Österreich nicht gleich Weltgericht.
STANDARD: Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth wurde ins Exil gezwungen und nannte sich Hotelbürger. Sie flüchten zum Schreiben ins Kaffeehaus: Man könnte Sie einen Kaffeehausbürger nennen. Haben Sie ein Lieblingskaffeehaus?
Magris: Ich mag es, unter Menschen zu sein, und wenn ich kann, gehe ich zum Schreiben ins Caffè San Marco in Triest. Ich fühle mich immer wie auf der Flucht. Leute um mich zu haben, die keine Notiz von mir nehmen, hilft auch gegen einen gewissen Größenwahn sehr gut. In Wien liebe ich das Cafe Sperl im sechsten Bezirk, ich bin aber in den vergangenen Jahren selten in Wien gewesen, und daher liegen auch meine Besuche dort länger zurück. Das Schöne am Sperl ist, dass es sich nicht selbst inszeniert, es hat etwas Normales an sich.